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Melanie Manchot

Look at you loving me, 1995
Look at you loving me

Der Schrecken ist groß: Eine ältere Frau steht im Scheinwerferlicht. Sie ist nackt. Das Licht schmeichelt nicht. Es verwandelt ihren Körper in eine dramatische Landschaft aus Mulden, Hügeln, Polstern und Falten. Lebensjahrzehnte haben sich in die Hautoberfläche ihres unversehrten Leibes eingegraben. Er hat an Spannkraft eingebüßt, ist vom langen Tragen weit und weich geworden wie ein bequemes Kleid.
 
Portrait of Mrs. Manchot, looking up,
1997, Silber-Gelatine-Abzug auf Leinwand
Portrait of Mrs. Manchot, smiling, 1997,
Silber-Gelatine-Abzug auf Leinwand
Als Melanie Manchot 1995 ihre fotografische Betrachtungen in dieser Serie vom eigenen Leib löste, machte sie sich auf die Suche nach einem Bild, das dem Lauf eines Lebens eingeschrieben ist und zeitlich über ihre eigene Existenz hinausreicht. Ihre Neugier führte die Künstlerin auf das unsichere Terrain der Zukunft. Sie entdeckte den weiblichen Körper im fortgeschrittenen Alter und begab sich damit auf die unausgeleuchtete Seite herkömmlicher Repräsentationsnormen. Im Selbstbildnis hatte die damals achtundzwanzig Jahre alte und in London lebende Künstlerin nur jenes gängige Schönheitsideal bedienen können, das in der Kunst seit Jahrhunderten und in Werbung seit Jahrzehnten tradiert wird: das ewig jugendliche, strahlend schöne und voller Energie steckende Weib, die begehrt und begehrt wird, die verführt wie Salome und Objekt verfällt wie Marilyn. Dass die öffentliche Wahrnehmung den weiblichen Körper nur in der Zeit seiner größten Reproduktionsfähigkeit positiv bewertet, erschien Melanie Manchot zu kurz gegriffen. Hatte Eva das Paradies nicht längst verlassen, um ein wirkliches Leben zu führen? Warum wurde es unter ästhetischen Qualitätshierarchien gestellt?

Der Blick in den Spiegel reichte nicht, um die Klischees aufzubrechen. Manchot suchte hinter die Maske jugendlicher Schönheitsideale zu schauen. So musste sie ein älteres Modell finden, um ihre Forschung ins Bild setzen zu können. Dabei konnte die Künstlerin nicht den Leib einer älteren Frau leihen und optisch ausbeuten. Auf diese Weise wäre sie erneut dem Kreislauf gewohnten Konsumverhaltens verfallen. Das Modell sollte der eigenen Lebenslinie möglichst eng verbunden sein. Diesen Anspruch konnte nur die eigene Mutter standhalten. Und die willigte ein. Sie nahm die ungewöhnliche Herausforderung, als Aktmodell vor der Kamera der Tochter zu treten, an.

In der Repräsentation desjenigen Körpers, der Melanie Manchot vor dem eigenen Leben Schutz und Nahrung geboten hatte, nun als Lebensspender ausgedient hat und doch voller Leben steckt, erschüttert die Künstlerin Schamgrenzen und Tabuzonen. Mit empörender Offenheit stellt sie das Alter ungeschminkt und hüllenlos vor Augen. Sie nimmt dem Modell die Aura der Mütterlichkeit sowie den Schutz der Anonymität. Im Vertrauen eines Körpers, der nicht durch Fremdheit Distanz gebietet, hat Melanie Manchot in den Bildern der Mutter die eigene Identität in die Zukunft projiziert.


Katja Blomberg, in: Melanie Manchot. look at you loving me. Bilder meiner Mutter von 1995 - 1998