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Elisabeth Vary



Walter Vitt
Rede zur Eröffnung der Ausstellung Elisabeth Vary in St. Maternus, Köln
Liebe Elisabeth Vary, lieber Günter Umberg, liebe Gemeindemitglieder, liebe Gäste,

wir haben in Sankt Maternus schon viele Jahre Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst gezeigt, aber eine Bilderschau mit einer derart radikalen Auffassung hinsichtlich des Verständnisses für das, was Farbe sein kann, war noch nicht darunter.
Ich spreche dieses Thema gleich zu Anfang meiner Einführung an, denn diese – ich sage mal – „wilden und wuchernden Farben“ auf den kleinen Objekten dürften zum Hauptdiskussionsstoff unter den Besuchern werden, das kann ich angesichts der ersten Reaktionen auf die Aussendung des Einladungs-Flyers gewiss vermuten.
Eine telefonische Anruferin fragte mich rundheraus: „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Sie sich selber eine solche Arbeit in Ihrer Wohnung aufhängen – oder doch?“ „Natürlich würde ich das tun“, antwortete ich ihr, „denn nur wenn man mit neuer Kunst lebt, kann man sich ihrer innovativen Dimension zu nähern versuchen und diese schließlich auch verstehen. Sich zu öffnen gilt nicht nur, wenn man andere Menschen verstehen will, das gilt auch für Kunst anderer Art“.
Ich weiß nicht, ob ich die Anruferin überzeugt habe, denn sie hat sich dem Gespräch nicht weiter ausgesetzt. Aber immerhin hat sie mir einen schönen und – wie ich glaube – sehr passenden Einstieg in meinen Vortrag geschenkt.

Ich sprach davon, dass Elisabeth Vary einem sehr radikalen Ansatz folgt, uns ihr Verständnis für Farben vor Augen zu führen. Diese Radikalität liegt in der Art und Weise, wie die Malerin die Farbe von der überkommenen alten Aufgabe löst, nämlich Bild-Formen unterschiedlichster Gestalt ein farbiges Kleid zu geben. Sie befreit die Farben damit von der Jahrhunderte langen Pflicht, etwas anderes darzustellen als ausschließlich sich selber, - und dies geschieht in einem nahezu chaotisch wirkenden Farb-Mix.
Ich möchte die Kunst von Elisabeth Vary in das gegenwärtige Kunstgeschehen einordnen. In der neueren Kunst gilt vorrangig das Bemühen vieler Künstlerinnen und Künstler, die klassischen Gattungen Plastik, Malerei und Grafik zu ignorieren: sie entweder zu stören oder gar aufzulösen oder aber sie miteinander zu verschmelzen, zu versöhnen. Im Werk der Kölner Malerin scheint mir diese Tendenz mit besonders erstaunlicher Strategie vorgetragen.

Die Künstlerin malt seit 1983 nicht mehr auf flachen, zweidimensionalen Malgründen. Stattdessen baut sie sich als Farbträger unterschiedlich und unregelmäßig geformte stereometrische Objekte, die sie aus Kartons herstellt, innen mit 5 mm starken Platten verstärkt und außen mit einer Spachtelmasse grundiert. Körper (also Plastik) und Farbe (also Malerei) werden gattungsübergreifend zur Einheit geführt. Dabei tritt die Farbe in unorthodoxer Freiheit auf – von wuchernder Fülle bis zum Monochromen –, während die streng gebauten Objekte der Welt des konstruktiven Gestaltens entsprungen zu sein scheinen. Die Objekte werden nicht nur auf der Vorderfläche bemalt, sondern gleichfalls auf ihren Seiten. Farbe ist in der Malerei der Elisabeth Vary nicht Dienerin von etwas Darzustellendem, sondern hat einen ihr allein zustehenden Wert und Charakter, ist Materie und etwas Lebendiges zugleich, hat Persönlichkeitsstruktur. Die Künstlerin bezieht sich damit auf das Farbverständnis des früh gestorbenen französischen Malers Yves Klein – er lebte von 1928 bis 1962, starb 34jährig. Yves Klein hat sich alle Farben ganz individuell vorgestellt, als Lebewesen mit persönlicher Seele: sanft oder böse, erhaben oder gewaltig, grob oder ruhig. In einer Rede zur Eröffnung einer seiner Aus-stellungen sagte er 1955: „Für mich ist jede Nuance einer Farbe irgendwie ein Individuum, ein Lebewesen von derselben Art wie die Grundfarbe, das aber einen Charakter hat und eine persönliche Seele besitzt“. 1)
Will man der Farbe ihre eigene Existenz geben - statt sie zu benutzen (man könnte auch sagen: zu missbrauchen), um etwas anderes als Farbe zu behaupten, sind in der Kunst verschiedene Wege gegangen worden. Josef Albers hat mit seinen 1949 begonnenen „Ehrungen des Quadrats“ in hunderten von Bild-Beispielen mit ineinander gelegten Quadraten, die sämtlich unterschiedliche Farben tragen, deren Wechselwirkung dargestellt. Der frühere Bauhaus-Meister hat uns in seinem Nachkriegswerk sozusagen die Koexistenz der Farben vor Augen geführt. Diese Koexistenz der Farben gibt es natürlich auch in jedem realistischen Bild wie in jedem abstrakten Bild, aber in solchen Bildern sehen wir die Farben nicht in ihrem Eigen-Dasein, sondern als Hüter von Formen und Figuren, von Vegetation und urbaner Welt, von Himmel und Erde. Es ging Albers nicht um das Quadrat als konstruktive Form oder um das Quadrat als ästhetisches Phänomen, sondern als Unterlage, als Fond, als Hin-tergrund für die Ansiedlung von Farben, mit denen er Prinzipien ihres Eigenle-bens im Miteinander verdeutlichen wollte. Albers sprach davon, dass das Quadrat nur der Teller sei, nicht aber die Suppe.2) Konsequenter Weise hätte er diese Bilder-Serie deshalb eher „Ehrungen der Farbe“ nennen müssen.

Eine andere Möglichkeit, den Farben deren Eigenwert zu belassen, ist das monochrome Bild, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von vielen Malern in unterschiedlicher Weise ausgeformt worden ist. Dabei handelt es sich um die deutlichste Abkehr vom klassischen Bildtypus des kompositorischen Miteinanders von Farben, die zumeist den Auftrag haben, den ver-schiedenen Formen sozusagen zur besseren Erkennung ihrer Bedeutung im Bildgefüge hilfreich zu sein. Auf einem monochromen, also einfarbigen Bild bietet sich allein eine Farbe dar und kann sich, um noch einmal Yves Klein zu zitieren, selbst darstellen, kann sanft oder böse sein, erhaben oder gewaltig, grob oder ruhig.
Elisabeth Vary hat gelegentlich ebenfalls monochrome Bildwerke geschaffen, sie sind – wie viele ihrer Arbeiten – oft paarweise an der Wand platziert und wetteifern mit zwei unterschiedlichen Einfarbigkeiten miteinander oder gegeneinander. Zumeist sind ihre Schöpfungen aber vom Übermut des Farbreichtums geprägt, sind in ihrer Buntheit nur wenig begrenzt und lassen in ihrem chaotischen Formenwillen nicht zu, dass man glauben könnte, hier werde etwas anderes gezeigt als Farbe.

Varys Werke entziehen sich dadurch fast oder gänzlich dem Wort, widersetzen sich der Beschreibung – ein großes Problem für Kritiker und Kunstwissenschaftler, deren Aufgabe ja gerade das ist, wogegen sich Varys Kunststücke zur Wehr setzen: nämlich sinnvoll darzulegen, wie sich diese Werke darstellen. Aber wie soll man etwas plausibel beschreiben, das nichts anderes behauptet, als Farbmaterie auf stereometrischen Körpern zu sein? Das so sehr es selber ist, dass seine Darstellung in einem anderen Medium – dem Schreiben, der Rede – nicht oder nur unvollständig funktioniert. Das von jedem Betrachterstandort verändert aussieht oder – anders gesagt – aus jedem Blickwinkel immer wieder neu seine Unüberblickbarkeit zur Schau stellt? Das einen klar gebauten stereometrischen Körper mit seinen Farbangriffen seiner Form beraubt, diese stört, zersetzt, ja auffrisst?

Zudem sind diese Werke oft zweiteilig, auch dreiteilig und beziehen die Wände in ihren Ausdruckswillen mit ein. Was als Not des Kritikers oder des Kunstwissenschaftlers beim Beschreiben dieser Kunst gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise für das schwierige Seh-Erlebnis aller Ausstellungsbesucher. Deren Einsichten in die Komplexität der Werke sind immer nur vorübergehend, sind instabil, müssen sich dem permanenten Blickwechsel zwischen Flächen, Körpern, Farben und Wänden aussetzen. Ein endgültiger Zugriff auf einen Werkkomplex will nicht gelingen und soll wohl auch nicht gelingen. Die Instabilität ist dieser Kunst absichtsvoll mitgegeben.
Mit den alten Begriffen der Kunst der Abstraktion, des Informellen, des Expressiven oder des Konstruktiven kommt man schon gar nicht weiter, nicht einmal hilfsweise. Allenfalls kann man konstatieren, dass diese Werke ohne diese Kunst-Traditionen nicht eben denkbar wären, aber deutlich aus ihnen herausgewachsen sind. Denn da sie nichts Abstraktes oder Informelles behaupten, auch nichts Expressives oder Konstruktives, sondern nichts als ihre eigene Farbmaterie gelten lassen, sind sie, was sie sind: die Farben wuchern über den Grund oder verstecken sich, bilden auch Schlieren, sie ergänzen, überlagern oder stören sich gegenseitig, adeln einander gar, schimmern aus der Tiefe der vielen Farbüberlagerungen, zeigen sich im Glänzen wie im Matten, grenzen sich selten voreinander ab, wildern stattdessen bei der Nachbarfarbe, sind Ergebnis gesteuerten Fließens oder zeigen, wie hart der Spatel mit ihnen umgegangen ist. Die Künstlerin malt nicht (oder sehr selten) mit einem Pinsel, stattdessen mit einem Stück Karton, das sie wie einen Spatel benutzt.

Den Begriff des „gesteuerten Fließens“ habe ich absichtsvoll gewählt. Denn obwohl das bildnerische Geschehen auf den Objekten oftmals wie ein Zufallsakt ausschaut, so ist es doch von der Künstlerin gesteuert, sie spricht von „durchgeplanter Handlung“, von einer „Frage der Übung“. Sie sagt: „Es handelt sich um gelenkte Form, denn ich gebe den Farbrhythmus vor, ich steuere das Fließen der Farbe, weil ich aus Erfahrung weiß, was Farbe in einer gewissen Menge tut, wenn sie fließen darf.“ 3) Sie nimmt weg, was zu viel erscheint, sie fügt hinzu, wo es ihr fehlt. So frei dies alles aussehe, es sei ihr Gestus, der sich verwirkliche, alles habe mit ihrem Körper zu tun. Deshalb gibt es auch keine überdimensionierten Werke dieser Künstlerin, auch hinsichtlich des Formats der Stücke ist ihr Körper die Maßeinheit. Aber die großen Freiheiten, welche die Farben haben – und sie haben sie bis hin zum Farben-Chaos –, gehört zu ihrer planenden Strategie. Alte künstlerische Traditionen zeigen sich im dialogischen Bereich, der vor allem die mehrteiligen Werke beherrscht: hell steht oft gegen dunkel, bewegt gegen ruhig, monochrom gegen diffus, matt gegen glänzend. Den wichtigsten Dialog aber fechten die Arbeiten in sich selber aus, indem die konstruktive skulpturale Form 4) die emotionale Farbe „ertragen“ muss. Für die Malerin ist dies die Begegnung des Apollinischen, sprich: der harmonisch ausbalancierten stereometrischen Farbträger, mit dem Dionysischen der wuchernden, wildernden, oft schreiend farbigen Farben. Noch einmal verweist sie im Ateliergespräch auf Yves Klein und sagt, durch das malerische Handeln habe die konstruktive Form so etwas wie eine Seele bekommen.

Dass die mehrteiligen Werke nicht irgendwie an die Wand gebracht werden können, sondern dass ihre Platzierung von der Künstlerin exakt vorgegeben ist, kann nicht verwundern. Auch hier folgt sie ihrer Körperlichkeit, d. h. dem Verhältnis ihres Sehens im Raum – ihres Sehens vor einer Wand und vor ihren Arbeiten an dieser Wand. Es ist zugleich unser Sehen im Raum, vor einer Wand, vor den Arbeiten.


1) Siehe Hannah Weltemeier, Yves Klein 1928-1962. International Klein Blue, Köln o.J., S. 15.
2) Zitiert nach: Eugen Gomringer, Josef Albers. Sein Werk als Beitrag zur visuellen Gestaltung im 20. Jahrhundert, Starnberg 1971, 2. Auflage, S. 139.
3) Sämtliche Zitate der Malerin stammen aus zwei Ateliergesprächen (am 9.2. und 28.8. 2008)
4) Die stereometrischen Körper, die sich Vary als Malfeld baut, sind sicherlich vergleichbar mit den Albers’schen Quadraten im Quadrat im Quadrat. W.V.


22. Oktober 2008